Will Präsident Biden immer noch den Dritten Weltkrieg vermeiden?
von General a. D. Harald Kujat
Präsident Biden hat der ukrainischen Regierung erlaubt, militärische Ziele mit amerikanischen Waffen in Russland anzugreifen. Allerdings ist dieses Zugeständnis auf die Bekämpfung von Artilleriestellungen, Raketenbasen und Kommandozentren zur Verteidigung von Charkiw und der näheren Umgebung beschränkt. Der Einsatz der ATACMS mit einer Reichweite von 300 Kilometern und anderer weitreichender Waffen ist davon ausdrücklich ausgeschlossen. Wegen der verstärkten Angriffe Russlands im Raum Charkiw mit der Folge erheblicher Geländegewinne sollen die ukrainischen Streitkräfte in die Lage versetzt werden, russische Truppenkonzentrationen bereits vor Beginn eines Angriffs zu bekämpfen. Das Ziel der russischen Vorstösse ist es offenbar jedoch nicht, Charkiw einzunehmen, sondern die ukrainischen Streitkräfte zurückzudrängen, um die Distanz zur russischen Grenze durch eine Pufferzone zu vergrössern, denn immer wieder hatte die Ukraine die Zivilbevölkerung der grenznahen russischen Stadt Belgorod angegriffen und dabei auch amerikanische Streubomben eingesetzt.
Präsident Biden hatte Angriffe auf russisches Territorium bisher kategorisch ausgeschlossen, um einen «Dritten Weltkrieg zu vermeiden». Europäische Politiker, allen voran Präsident Macron, aber auch der Nato-Generalsekretär, haben eine Änderung der amerikanischen Position gefordert.
Ist Biden nun bereit, das Risiko eines Dritten Weltkriegs einzugehen? Die Amerikaner verfolgen eine kontrollierte Eskalationsstrategie: In kleinen, dosierten Schritten wird das Risiko des Gegners vergrössert und das eigene Risiko minimiert. Reagiert der Gegner nicht, folgt der nächste Schritt. Russland hat die USA davor gewarnt, die Erlaubnis zu Angriffen auf russisches Territorium zu erteilen, aber keine konkreten Massnahmen angekündigt. Es wird sich also zeigen, ob und wie Russland reagiert.
Im Westen wird oft als Schwäche missverstanden, dass Russland bei einer Eskalation des Westens droht, aber nicht reagiert. Russlands Toleranzschwelle ist hoch, allerdings ist nicht klar, wann ein Eskalationsschritt diese überschreitet. Dann erfolgt jedoch eine schnelle, harte Gegenreaktion. Die grosse Gefahr besteht darin, nicht rechtzeitig zu realisieren, wann die russische Toleranzschwelle überschritten wird.
Der ukrainische Präsident hat bereits weitere Eskalationsschritte des Westens gefordert. Ukrainische Rekruten sollen durch Truppen aus Nato-Staaten in unmittelbarer Frontnähe ausgebildet werden, obwohl damit Kampfhandlungen mit russischen Truppen vorprogrammiert sind. Präsident Macron will in Kürze konkrete Pläne vorstellen. Ausserdem sollen Flugzeuge der Nachbarstaaten aus ihrem Luftraum russische Raketen über ukrainischem Territorium bekämpfen. Die Ukraine wird voraussichtlich ab Juli amerikanische F-16-Kampfflugzeuge erhalten. Die ukrainischen Luftstreitkräfte könnten dann mit weitreichenden Luft-Luft-Raketen russische Kampfflugzeuge bekämpfen, bevor diese in über 70 Kilometer Entfernung von der ukrainischen Grenze ihre Gleitbomben ausklinken. Schliesslich haben Präsident Macron und andere Nato-Staaten ihre Bereitschaft erklärt, reguläre Kampftruppen zur Verteidigung der Ukraine einzusetzen.
Diese Eskalationsschritte sind insgesamt nicht geeignet, die strategische Lage der Ukraine zu ihren Gunsten zu wenden. Aber jeder einzelne Schritt könnte die russische Toleranzschwelle überschreiten und eine massive Gegenreaktion auslösen. Die Gefahr der schrittweisen Eskalation liegt deshalb in der nicht kalkulierbaren Reaktion Russlands und einem direkten militärischen Konflikt zwischen der Nato und Russland, mit dem Risiko eines auf den europäischen Kontinent begrenzten Nuklearkrieges.
Deutschland ist sofort dem amerikanischen Beispiel gefolgt und hat ebenfalls erklärt, deutsche Waffen könnten auf russischem Territorium eingesetzt werden. In Deutschland heisst es jetzt bereits: «Dieser Kurswechsel war unvermeidlich. Doch noch fehlt ihm die letzte Konsequenz. Dann muss Deutschland auch den Taurus liefern.» Diese Forderung verkennt, dass die USA entsprechend dem Prinzip der kontrollierten Eskalation weitreichende Systeme vorerst von der Freigabe ausgeschlossen und ihre Erlaubnis auf regional begrenzte, taktische Einsätze beschränkt haben. Taurus ist in der Lage, strategische Ziele zu bekämpfen einschliesslich solcher, die in keinem Zusammenhang zum russischen Angriff stehen und auch keine Auswirkungen auf den Krieg haben. Die Freigabe von Taurus würde die kontrollierte Eskalation der USA unterlaufen und mit ziemlicher Sicherheit eine sofortige, harte Reaktion Russlands herausfordern.
Die Ukraine hat mindestens zweimal Drohnenangriffe auf das russische Radarfrühwarnnetz gegen Angriffe mit interkontinentalstrategischen Nuklearraketen ausgeführt: Am 23. Mai auf das Woronesch-System in Armawir in der Region Krasnodar und am 27. Mai in der Region Orsk bei Orenburg. Das russische Frühwarnsystem gegen ICBM-Angriffe hat für den Ukraine-Krieg keine Bedeutung. Das Ziel dieser Angriffe ist es offensichtlich, die russische Fähigkeit einzuschränken, interkontinentalstrategische Angriffe zu erkennen und darauf zu reagieren. Dieses Vorhaben kann man nur als das Werk verantwortungsloser Hasardeure bezeichnen. «Zum ersten Mal seit der Kuba-Krise haben wir es mit einer direkten Drohung (gemeint war Putin) mit dem Einsatz von Atomwaffen zu tun, wenn sich die Situation tatsächlich so weiterentwickelt wie bisher», sagte Präsident Biden Anfang Oktober 2022 und warnte vor einem nuklearen «Armageddon». Durch die ukrainischen Angriffe auf das russische Frühwarnsystem hat sich die Situation weiterentwickelt. Der Versuch, das nuklearstrategische Gleichgewicht mit den USA durch Angriffe auf das strategische Frühwarnsystem Russlands zu destabilisieren, kann nur als Versuch gewertet werden, ein zweites Kuba zu schaffen.
Es ist deshalb nicht besonders schwierig sich vorzustellen, gegen welche Ziele die Ukraine Taurus einsetzen würde. Noch will Präsident Biden mit seiner vorsichtigen Eskalationsstrategie «einen Dritten Weltkrieg vermeiden.» Aber wie lange noch? Weitere Eskalationsschritte werden folgen. Und wenn Deutschland wegen des Mangels an sicherheitspolitischem Weitblick und strategischem Urteilsvermögen Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern sollte, könnte das Gegenteil sehr schnell eintreten.
veröffentlicht 4. Juni 2024
Quelle: Artikel von Zeitgeschehen im Fokus