«Wenn die Ukraine fällt, ist das das Ende der westlichen Hegemonie» (Boris Johnson, April 2024)
Interview mit Jacques Baud*
Quelle: zeitgeschehen-im-fokus.ch
Zeitgeschehen im Fokus Wie ist die militärische Lage aktuell in der Ukraine?
Jacques Baud Die Lage ist schlecht für die Ukraine. Russland setzt seine Strategie der «aggressiven Abnutzung» fort, die im Oktober 2022 von General Surowikin, damaliger Chef der russischen Streitkräfte in der Ukraine, angekündigt wurde. Die russische Armee bedrängt die Ukrainer dynamisch, indem sie sie daran hindert, sich neu zu gruppieren und neue Verteidigungslinien zu bilden.
Der ukrainischen Armee fehlen Männer und die Zwangsrekrutierungskampagnen, die seit Ende 2022 eher unauffällig auf dem Land durchgeführt wurden, werden nun in den Grossstädten durchgeführt. Darüber hinaus hat die Regierung das Mindestalter für die Einberufung zum Wehrdienst gesenkt.¹ Wie ich Ihrer Zeitung bereits berichtet hatte, haben sich viele junge Ukrainer an Universitäten eingeschrieben, um der Einberufung zu entgehen. An einigen Universitäten hat sich die Zahl der männlichen Studierenden um das Zwölffache erhöht, während insgesamt seit Beginn der russischen Operation 82 Prozent mehr männliche Studierende an ukrainischen Universitäten eingeschrieben sind. Die ukrainische Regierung hat die konsularischen Dienste für ukrainische Jugendliche im wehrfähigen Alter, die nach Europa geflohen sind, abgeschafft.
Diese Massnahmen tragen zur Unbeliebtheit der Regierung bei, die verstärkt auf Repressionen setzen muss. Die Zahlen über die ukrainischen Verluste, die von den westlichen Medien stark unterschätzt wurden, um die Unterstützung für den Krieg zu fördern, beginnen sich zu verbreiten. Es ist schwer, zwischen Gerüchten und der Realität zu unterscheiden, aber wie die New York Times betont, dezimiert die Ukraine eine Generation.² Einige Schätzungen gehen von bis zu einer Million Toten aus, dann wären wir weit entfernt von den 31 000 Toten, die Selenskyj im Februar 2024 verkündete.³
Auf operativer Ebene scheint Russland eine neue Front im Charkow-Sektor eröffnen zu wollen. Die Angriffe der Ukrainer auf Dörfer im Belgorod-Sektor veranlassten Russland, eine «Pufferzone» entlang der Grenze einzurichten, die als Grundlage für eine grössere Offensive dienen könnte. Innerhalb weniger Tage eroberte die russische Armee ein Dutzend Dörfer. Mit anderen Worten: Die von den Ukrainern durchgeführten «tiktok-Operationen» brachten nicht nur keine taktisch-operativen Ergebnisse, sondern führten lediglich dazu, dass Russland sich in der Ukraine stärker engagierte.
In der Tat treibt der kategorische Widerstand des Westens gegen jegliche Verhandlungen mit Russland dieses dazu, die Ukraine vollständig zu zerstören. Ich erinnere daran, dass das Ziel der Russen darin bestand, die Bedrohung gegen die russische Bevölkerung der Ukraine zu beseitigen. Es gab mehrere Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen.
Die erste war die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen (UN Security Council Resolution 2022) , was die Russen versuchten, aber weder Petro Poroschenko noch Angela Merkel, François Hollande, Emmanuel Macron oder Wolodymyr Selenskyj wollten dies tun.
Die zweite bestand darin, den ukrainischen Behörden zu erklären, dass ihre russischsprachige Bevölkerung keine Bedrohung darstellte und das gleiche Ziel verfolgte, in Frieden zu leben, wie der Rest der Ukraine. Dies versuchte Wladimir Putin mit seinem Artikel vom 12. Juli 2021 «Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern».4 Dieser Artikel war eine Reaktion auf die Verabschiedung des Gesetzes vom 1. Juli 2021 über die indigenen Völker der Ukraine, das den Russen in der Ukraine andere Rechte vorsah.
Die dritte war, eine Vereinbarung mit der ukrainischen Regierung zu erzielen, die es ermöglichte, die Sicherheit der russischen Minderheit zu gewährleisten, indem der eigentliche Grund für die Entschlossenheit der Ukrainer, gegen sie vorzugehen, beseitigt wurde. Dies war Wolodymyr Selenskyjs Vorschlag, den Russland im März 2022 zu akzeptieren bereit war,5 aber vom Westen gezwungen wurde, ihn zurückzuziehen.⁶
Die vierte Möglichkeit, damit die Ukraine keine Bedrohung mehr darstellt, ist, dass sie nicht mehr funktionsfähig ist. Ich weiss nicht, was die russische Führung vorhat, aber der westliche Ansatz, die Ukraine dazu zu bringen, den Krieg fortzusetzen, könnte dazu führen, dass die Russen dafür sorgen, dass die Ukraine als Staat nicht mehr existiert. Ich denke, dass unsere Diplomaten dies nicht verstanden haben, als sie ihre sogenannte «Friedenskonferenz» im Juni auf dem Bürgenstock organisierten.
Sie haben sich in einem Interview in dieser Zeitung schon zu Beginn des Krieges dahingehend geäussert, dass die Ukraine Russland nicht besiegen wird. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die heutige Situation betrachten?
Ich stelle fest, dass die Analysen, die den Westen dazu veranlassten, das Minsker Abkommen zu sabotieren und die Ukraine zu unterstützen, auf einer verfälschten Sicht der Realitäten basierten. Unterschätzt wurden die Art und Robustheit der russischen Wirtschaft, die Unterstützung der Bevölkerung für Wladimir Putin und die Fähigkeiten der russischen Streitkräfte. Umgekehrt gab es eine Überbewertung der Stärke der Ukraine, der Unterstützung der Bevölkerung für Wolodymyr Selenskyj und der Fähigkeiten der Ukraine, Widerstand zu leisten.
Wie ich bereits zu Beginn des Konflikts in meinen Büchern geschrieben habe, waren diese Einschätzungen jedoch falsch und mussten zwangsläufig zu der Situation führen, in der sich die Ukraine und wir uns heute befinden.
Ich erinnere daran, dass die US-Strategie,7 die seit zwei Jahren vor unseren Augen abläuft – das heisst Waffenlieferungen an die Ukraine, Waffenlieferungen an syrische Rebellen, Unterstützung eines Regimewechsels in Belarus, Ausnutzung der Spannungen zwischen Armeniern und Aseris, verstärkte Aufmerksamkeit gegenüber Zentralasien und Isolierung Transnistriens –, zeigt, dass der Westen ein sorgfältig beschriebenes Szenario umgesetzt hat.
Aber wie ich bereits geschrieben hatte, waren sich die Experten der RAND-Corporation, die gebeten worden waren, diese Strategie zu formulieren, selbst darüber im Klaren, dass diese Strategie zu einer Katastrophe für die Ukraine führen könnte und «unverhältnismässig hohe Verluste an Menschenleben, Gebietsverluste und Flüchtlingsströme für die Ukraine zur Folge haben könnte» und dass sie «die Ukraine zu einem unvorteilhaften Frieden drängen könnte».8
Während der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire am 1. März 2022 erklärte: «Wir werden den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft herbeiführen!»⁹ und behauptete, dass «die Sanktionen wirksam sind. Die wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen sind sogar erschreckend wirksam!»10 und dass «das russische Volk auch die Konsequenzen tragen wird».11 Dabei hatten die Experten der RAND-Corporation drei Jahre zuvor noch gewarnt, dass der Zusammenbruch Russlands durch Sanktionen eine «übertrieben optimistische Annahme» sei.
Mit anderen Worten: Unsere Politiker und Journalisten der Mainstream-Medien wussten, dass sie die Ukraine in eine Katastrophe führen, nur weil sie Putin nicht mögen.12 Mit anderen Worten, sie versuchten, die öffentliche Meinung auf einer falschen Grundlage zu manipulieren, indem sie Tausende von Ukrainern in den Tod trieben, nur um ihre soziopathische Hybris zu befriedigen.
Der Westen hat Milliarden in die Ukraine gesteckt in Form von Waffen, militärischer Ausbildung und Milliarden für den Wiederaufbau versprochen. Stimmen Sie Ihrer früheren Aussage: «Es geht nicht darum, der Ukraine zu helfen, sondern Russland zu bekämpfen.» heute noch zu?
In einer Rede an der Universität Oxford am 3. Mai erklärte Josep Borrell, der für die Aussenpolitik der EU zuständig ist:
« […] Wir sind Teil des Problems. Wir haben dieses Problem auf die eine oder andere Weise geschaffen, und wir haben eine grosse Verantwortung, wenn wir versuchen, es zu lösen. Die ukrainische Existenz hängt von uns ab. Ich weiss, wie man den Krieg in der Ukraine beenden kann. Ich kann den Krieg in der Ukraine in ein paar Wochen beenden, indem ich einfach den Nachschub kappe. Wenn ich die Waffenlieferungen an die Ukraine unterbreche, kann die Ukraine keinen Widerstand leisten, sie wird sich ergeben müssen, und der Krieg wird beendet. Aber ist das die Art und Weise, wie wir den Krieg beenden wollen? Ich will das nicht, und ich hoffe, dass viele Menschen in Europa das auch nicht wollen.»13
Mit anderen Worten, der Chefdiplomat der EU gibt zu, dass der Westen die Ursache für die Ukraine-Krise ist: Es war die EU, die ein Abkommen abgelehnt hat, das der Ukraine ermöglicht hätte, sich Europa anzunähern und gleichzeitig die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland aufrechtzuerhalten. Es waren Frankreich und Deutschland, die ihre Verpflichtung nicht eingehalten haben, das Abkommen zwischen der Opposition und der ukrainischen Regierung vom 21. Februar 2014 zu garantieren, es waren die USA, Grossbritannien, Frankreich und Deutschland, die ihre Verpflichtung zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen nicht eingehalten haben, es waren auch die Westmächte, die Selenskyj dazu gedrängt haben, seinen Friedensvorschlag, den Russland im März 2022 zu akzeptieren bereit war, zurückzuziehen. Der Westen tauschte daraufhin seine Unterstützung für «so lange wie nötig» gegen den von Selenskyj angestrebten Frieden ein.
Im Oktober 2023 erklärte die niederländische Verteidigungsministerin, Kajsa Ollongren, dass «die Unterstützung der Ukraine ein sehr kostengünstiger Weg ist, um sicherzustellen, dass Russland mit diesem Regime keine Bedrohung für die Nato-Länder darstellt».14 Das mag schockierend sein, aber von Seiten der Niederländer, deren Militär das Massaker von Srebrenica mit den Händen in den Taschen geschehen liess, ist das nicht wirklich überraschend und zeigt, wo ihr Ehrgefühl liegt. Abgesehen davon ist Ollongren mit ihrer Meinung nicht allein, denn im August 2023 hatte Senator Lindsey Graham (Republikaner) bereits gesagt, dass die Ukrainer bis zum letzten Mann kämpfen würden,15 solange sie mit Waffen versorgt würden, und die Unterstützung für die Ukraine als «das beste Geld, das wir je ausgegeben haben» bezeichnet, nachdem er festgestellt hatte, dass «die Russen sterben würden.»16
Der Westen – und dazu gehören auch Schweizer Politiker – sah die Unterstützung für die Ukraine als «Investition» im Kampf gegen Russland. So erklärte Senator Richard Blumenthal (Demokrat): «Für weniger als 3 Prozent unseres nationalen Militärbudgets haben wir dafür gesorgt, dass die Ukraine die militärische Stärke Russlands halbiert […] ohne dass ein einziger amerikanischer Soldat, ob Mann oder Frau, verletzt wurde oder verloren ging.»17
Es ist also der blosse Hass auf Wladimir Putin, der es akzeptabel macht, das ukrainische Volk zu opfern. Natürlich ist es für unsere Politiker einfach, mit dem Blut anderer Menschen Krieg zu führen. Ich war kürzlich in einer Debatte mit einer unserer «grünen» Parlamentarierinnen in der Schweiz und stellte eine unglaubliche Unkenntnis des Konflikts in der Ukraine fest. Mit solchen Leuten, die ignorant, dumm und fanatisch sind, werden Kriege geführt.
Sie erwähnten bereits 2022, dass Putin zwei Ziele verfolge, die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine. Kann Putin für sich in Anspruch nehmen, diese Ziele erreicht zu haben?
Die beiden Ziele, die Wladimir Putin am 24. Februar 2022 für seine «Militärische Sonderoperation» (SVO) nannte, waren die «Entmilitarisierung» und die «Entnazifizierung» der Bedrohung gegenüber der Bevölkerung des Donbas. Das Ziel der Entnazifizierung wurde am 28. März 2022 nach der Einkesselung von Mariupol erreicht, und die Entmilitarisierung wurde – in Wirklichkeit – dreimal erreicht: im Mai/Juni 2022, als Selenskyj erklärte, er sei nunmehr waffentechnisch vom Westen abhängig; im Dezember 2022, nachdem das von den ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR gelieferte Material vernichtet worden war, und im Sommer 2023, nachdem das vom Westen für die Gegenoffensive gelieferte Material vernichtet worden war. Man könnte sagen, dass die Russen dieses Ziel heute zum vierten Mal erreicht haben. Wenn man den täglichen Bulletins des russischen Verteidigungsministeriums über die ukrainischen Verluste Glauben schenkt, hatte man 2022 bis 2023 zehn Tote für einen zerstörten Panzer. Heute hat man 150 bis 200 Tote pro zerstörtem Panzer, was bedeutet, dass die Ukrainer keine Kampfpanzer mehr haben.
Die russische Kriegsführung folgt den von Clausewitz formulierten Prinzipien. Das bedeutet unter anderem, dass taktische Ziele so formuliert werden, dass ein operativer Erfolg erzielt werden kann, und dass man die operativen Ziele somit in strategische Erfolge wandeln können muss. Es findet also eine ständige Anpassung der Ziele an die Situation statt, um den strategischen Erfolg zu erreichen. Dies ist auch heute zu beobachten. Die anfänglichen Ziele werden evolutionär angepasst, um zum strategischen Erfolg zu führen.
Das Problem ist, dass der Westen, indem er die Ukraine dazu brachte, weiter zu kämpfen, sie dazu brachte, ihre menschlichen Ressourcen zu opfern, und die Russen dazu brachte, ihre Abnutzungsstrategie aggressiver zu betreiben, indem sie den Gegner «abholten», was sie dazu veranlasste, Territorium einzunehmen. Ich erinnere daran, dass die Einnahme von Territorium nicht das Ziel der Russen war. Im Übrigen waren sie im März 2022 bereit, ihre Truppen aus der Ukraine im Austausch gegen die Neutralität des Territoriums abzuziehen. Heute haben sie festgestellt, dass sie die Ukraine zerstören müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Aus diesem Grund greifen sie die kritische Infrastruktur des Landes an.
In den Jahren 2022 bis 2023 attackierten die Russen nur Kraftwerke, um die ukrainische Luftabwehr zu zermürben. Heute greifen sie die Stromerzeugungszentren an, die schwerer zu reparieren sind, um eine wirtschaftliche Tätigkeit zu erschweren. Da der Westen die Ukraine daran gehindert hat, eine Einigung mit Russland zu erzielen, hat er Russland dazu gebracht, seinen Druck zu erhöhen.
Der Westen hat Russland und seine Kriegsführung absolut nicht verstanden. Es ist nicht zuletzt unseren Medien und der Ignoranz unserer Journalisten zu verdanken, dass die Russen heute die Oberhand haben.
Russland ging es nicht darum, Land zu gewinnen, sondern darum, die Ukraine militärisch zu schwächen. Ist dieses Ziel erreicht worden?
Ja, sehr deutlich. Das erkläre ich in meinem neuesten Buch «Russische Kriegskunst», das schnell zu einem Standardwerk für diejenigen wurde, die sich mit dem Konflikt in der Ukraine beschäftigen. Ironischerweise ist es unseren Journalisten und ihrem Mangel an Kultur und intellektueller Neugier zu verdanken, dass die Russen diesen Erfolg erzielen konnten.
Man besiegt einen Gegner nicht, indem man beschliesst, dass er schwach ist, sondern indem man davon ausgeht, dass er stark ist, und seine Schwächen entdeckt und ausnutzt. Dank unserer Medien, die erklärten, dass die Russen schlecht kommandiert, demotiviert und schlecht bewaffnet seien, unterschätzten die Ukrainer systematisch die russischen Fähigkeiten. Wie ihre Medien feststellten, zogen die Ukrainer wie 1914 «mit der Blume im Gewehr» in den Kampf, mit der Vorstellung eines leichten Sieges. Die Realität sah jedoch ganz anders aus: Sie verloren das Vertrauen. Laut Oleksej Arestowitsch, dem ehemaligen Berater von Wolodymyr Selenskyj, soll es rund 100 000 ukrainische Deserteure geben. Wie er es ausdrückt: «Bevor man die Menschen auffordert, ihr Land zu verteidigen, sollte man ein Land haben, das man verteidigen will!»18
Für die westlichen Länder steht etwas anderes auf dem Spiel, und es hat nichts mit der Ukraine zu tun. Wie Boris Johnson im April 2024 sagte: «Wenn die Ukraine fällt, ist das eine Katastrophe; für den Westen ist es das Ende der westlichen Hegemonie.»19 So haben uns die europäischen Führer innerhalb von zwei Wochen daran erinnert, dass sie die Ursache der Krise sind und dass ein Fall der Ukraine das Ende ihrer Hegemonie bedeuten würde. Johnson verwendet das Wort «Hegemonie», wir befinden uns hier also nicht in der russischen Propaganda!
«Wenn die Ukraine fällt, ist das eine Katastrophe; für den Westen es ist das Ende der westlichen Hegemonie». («If Ukraine falls, it will be a catastrophe; for the West it will be the end of Western hegemony».)
Die Kriegshysterie, die am Anfang erschreckende Ausmasse angenommen hatte und an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erinnerte, ist wie damals der Realität des Kriegs gewichen. Findet irgendwo eine Reflexion über dieses Verhalten statt?
Nein, nirgends. Unsere Journalisten in den Mainstream-Medien sind Fanatiker und Dogmatiker. Das sieht man daran, dass sie sich weigern, die – nachgewiesenen – Verbrechen Israels zuzugeben, aber russische Verbrechen, die niemand bewiesen hat, vorbehaltlos verurteilen. Das ist auch der Grund, warum sie weder im einen noch im anderen Fall Untersuchungsausschüsse fordern.
Wir haben ein kriegslüsternes Klima geschaffen, das von der Annahme ausgeht, dass es Opfer gibt, die wichtiger sind als andere, und dass der Krieg daher eine reinigende Funktion hat. Das erklärt, warum sich unsere Medien nicht für die Opfer von Konflikten interessieren, da diese nur da sind, um die Hybris und den Fanatismus unserer Politiker und Journalisten zu befriedigen. Ich erinnere daran, dass ein Westschweizer Journalist einer der Inspiratoren von Anders Breivik war …
Paradoxerweise ist es wahrscheinlich derselbe Geist, den unsere Vorfahren hatten, als sie zu den Kreuzzügen aufbrachen oder den die Kämpfer des Islamischen Staates haben.
Um diese Hybris aufrechtzuerhalten, drohen heute dieselben Leute, die zwei Jahre lang behauptet und uns «bewiesen» haben, dass Russland keine Kapazitäten hat und schwach ist, für einem Angriff auf Europa. Unsere Journalisten sind Lügner, die ihre Lügen hinter anderen Lügen verstecken müssen.
Ein häufig gehörter Vorwurf lautet, der Westen habe zu langsam und zu wenige Waffen geliefert, deshalb sei die Ukraine in dieser misslichen Lage. Wie sehen Sie das?
Nein, es geht nicht um die Menge der Waffen. Der Westen hat die ukrainische Armee dreimal bewaffnet, gegen eine russische Armee, die als schwach ausgerüstet, schlecht kommandiert usw. gilt. Es handelt sich also nicht um eine Frage der Quantität, sondern um ein qualitatives Problem.
Das Problem ist komplexer. Eine Armee ist ein System, in dem die Doktrin, die Ausrüstung/Waffen, die Ausbildung der Soldaten und die Struktur der Streitkräfte mit dem Auftrag der Streitkräfte übereinstimmen müssen. Es ist also ein Ganzes, das auf die Missionen und Ziele, die man erreichen will, zugeschnitten ist. Wenn auch nur eines dieser Elemente nicht angemessen ist, bricht das Ganze zusammen.
Es kommt nicht auf die Anzahl der Waffen an, sondern auf ihre Integration in ein kohärentes System. Das erklärt, warum der Vietcong die USA besiegen konnte oder warum es der Hamas gelingt, die israelische Armee zu dominieren. Nicht die Technologie oder die Anzahl der Waffen sind entscheidend, sondern ihre Eignung für Strukturen, die Ausbildung von Kämpfern, eine Doktrin usw. Die Waffen werden in der Regel von der Armee eingesetzt.
Das Problem ist, dass die an die Ukraine gelieferten Waffen von sehr unterschiedlicher Qualität waren: Panzer aus den 1950er Jahren, andere aus den 2000er Jahren, Artilleriegeschütze aus den 1940er Jahren und andere aus dem Jahr 2020, bei denen das ukrainische Militär manchmal die Bedienungsanleitungen übersetzen musste, indem es Google Translate konsultierte.20 Mit einem Wort: Diese Materialien konnten nie in eine operative Kohärenz eingebunden werden.
Ausserdem waren die Waffen, die wir an die Ukraine geliefert haben, sehr oft von schlechter Qualität, beschädigt oder schlichtweg defekt. Im September 2023 gesteht die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock gegenüber CNN,21 dass von Berlin gelieferte Waffen «veraltet und unbrauchbar sind».22 Die Ukraine lehnte sogar von Deutschland angebotene Leopard 1A5-Panzer ab, da sie unbrauchbar waren.23 Die ukrainische Presse berichtete, dass die von Dänemark geschenkten Leopard 1A5 defekt waren. 24
Maria Berlinskaya, die für die Unterstützung der ukrainischen Luftwaffe zuständig ist, erklärte kürzlich: «Ohne unseren westlichen Partnern zu nahe treten zu wollen, haben sich die meisten ihrer Systeme als schlecht erwiesen.»25
All dies zeigt, dass das Ziel des Westens nicht darin bestand, der Ukraine zu helfen, sondern Russland zu zerstören. So war der amerikanische Plan, Russland als Staat zu zerschlagen, Gegenstand mehrerer internationaler Konferenzen, darunter eine im Europäischen Parlament in Brüssel, die von keinem der europäischen Medien erwähnt wurde.
Die USA und die EU wollen weiter Waffen liefern. Was hat das für einen Zweck?
Es ist ein Nachhutgefecht, um nicht das Gesicht zu verlieren, aber nichts von dem, was geliefert wird, wird den Verlauf des Konflikts ändern. So ist beispielsweise zu beobachten, dass sich im jüngsten Waffenpaket, das an die Ukraine geliefert wurde, kein einziges Luftabwehrwaffensystem befindet. Der Grund dafür ist, dass die Europäer kein Geld mehr haben, um die ukrainischen Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Andererseits hat der Westen nun Angst, die Schwächen seiner Systeme offen zu legen. So haben sich die Patriot-Systeme als unwirksam gegen russische Raketen erwiesen. Die Panzer Challenger 2 und M1 Abrams wurden von der Front in der Ukraine abgezogen, um zu verhindern, dass weitere Exemplare von den Russen erbeutet und in ihrem kürzlich eröffneten «Trophäenmuseum» in der Nähe von Moskau ausgestellt werden.
Der Mythos der Wirksamkeit westlichen Materials rührt daher, dass es bis dahin nur gegen technologisch unterlegene Armeen eingesetzt worden war. Heute zeigen sie gegen eine moderne russische Armee Leistungen, die weit hinter den ursprünglichen Versprechungen zurückbleiben. Die Schweiz wird dies mit den Patriot-Raketen und der F-35 feststellen.
Hat Russland im Laufe des Krieges sein Ziel geändert?
Nein, die Ziele sind im Wesentlichen immer noch dieselben, aber sie haben sich mit der Situation verändert. Aus der «Entmilitarisierung der Bedrohung für die Bevölkerung des Donbas» wurde eine «Entmilitarisierung der Ukraine». Ebenso wurde aus der am 28. März 2022 erreichten «Entnazifizierung der Bedrohung für die Bevölkerung des Donbas» die «Entnazifizierung der Macht in Kiew». Es handelt sich also um dieselben Ziele, die jedoch auf eine höhere Ebene gestellt wurden.
Umgekehrt waren weder die Ukrainer noch der Westen in der Lage, konkrete und realistische Ziele zu definieren. Die Ukrainer wollen die Russen auf die Grenzen von 1991 zurückdrängen, aber das vom Westen formulierte Ziel ist nach wie vor «der Zusammenbruch Russlands», und niemand nennt operative oder strategische Ziele, die dazu führen könnten. Der Grund dafür ist, dass der Westen diese Ziele unerreichbar gemacht hat: Dank westlicher Massnahmen verliert die Ukraine auf dem Schlachtfeld, und dank der Sanktionen des Westens ist Russland stärker geworden und hat seine Verbindungen zu China ausgebaut. Auf die Frage eines US-Senatsausschusses konnte Verteidigungsminister Lloyd Austin nicht definieren, was für die Ukraine ein Sieg sein könnte. Ohne den Begriff «Sieg» definieren zu können, ist es unmöglich, strategische und operative Ziele zu formulieren. Die Ukraine wird also in einen Krieg ohne Ziel getrieben. Wie Sun Tzu schon sagte: «Taktik ohne Strategie ist nur Geräusch vor der Niederlage». Genau in dieser Situation befindet sich die Ukraine heute.
Weil die Russen taktische und operative Ziele definiert haben, konnten sie ihr strategisches Ziel erreichen. Im Westen ist die politische Führung seit vielen Jahren und in allen Bereichen nicht mehr in der Lage, klare Ziele zu formulieren. Tatsächlich verfügen unsere Führungskräfte nicht mehr über die intellektuellen Qualitäten, die notwendig sind, um mit der Komplexität der modernen Welt umzugehen. Wir werden von «Klassenbesten» regiert, die ihre Lektion gut gelernt haben, aber nicht in der Lage sind, nachzudenken und kreativ zu sein. In allen unseren Ländern werden wir von Mittelmässigen regiert.
Wie man in Frankreich und insbesondere beim israelisch-palästinensischen Konflikt sieht, sind es in Wirklichkeit unsere Medien, die die Wahl unserer «Eliten» treffen und unsere Wahl beeinflussen (um nicht zu sagen «manipulieren»), um diejenigen auszuwählen, die dem, was sie denken, am nächsten stehen. So entwickelt sich eine regelrechte Gedankendiktatur, die Andersdenkenden den Zugang zu den Medien verwehrt.
Heute sagen Selenskyj und seine Generäle genau das, was ich zu Beginn der russischen Operation in meinen Büchern geschrieben habe!
Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.
¹ https://www.nytimes.com/2024/04/03/world/europe/Selenskyj-ukraine-military-draft-age.html
² https://www.nytimes.com/interactive/2024/04/11/world/europe/ukraine-demographics.html
³ https://www.washingtonpost.com/world/2024/02/25/ukraine-war-casualties-Selenskyj-russia/
4 http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181
5 https://www.ft.com/content/7b341e46-d375-4817-be67-802b7fa77ef1
⁶ https://www.pravda.com.ua/articles/2022/05/5/7344096/
7 James Dobbins, Raphael S. Cohen, Nathan Chandler, Bryan Frederick, Edward Geist, Paul DeLuca, Forrest E. Morgan, Howard J. Shatz, Brent Williams, « Extending Russia : Competing from Advantageous Ground », RAND Corporation, 2019; James Dobbins & al., « Overextending and Unbalancing Russia », RAND Corporation, (Doc Nr RB-10014-A), 2019
8 James Dobbins, Raphael S. Cohen, Nathan Chandler, Bryan Frederick, Edward Geist, Paul DeLuca, Forrest E. Morgan, Howard J. Shatz, Brent Williams, « Extending Russia : Competing from Advantageous Ground », RAND Corporation, 2019, p.100
⁹ https://www.bfmtv.com/economie/economie-social/bruno-le-maire-nous-allons-provoquer-l-effondrement-de-l-economie-russe_AN-202203010131.html
10 https://www.vie-publique.fr/discours/284205-bruno-le-maire-01032022-ukraine
11 https://twitter.com/i/status/1498563077440159745
12 https://www.nzz.ch/meinung/der-andere-blick/warum-russland-verliert-auch-wenn-putin-den-krieg-gegen-die-ukraine-gewinnt-ld.1672752
13 https://www.eeas.europa.eu/eeas/united-kingdom-speech-high-representativevice-president-josep-borrell-oxford-university-about-world_en
14 https://www.youtube.com/watch?v=NTehZQkJG-4
15 https://www.facebook.com/RevolutionIreland/videos/senator-lindsey-graham-who-has-been-up-to-his-tits-in-ukraine-since-2016httpsrig/1218472818909921/
16 https://www.newsweek.com/lindsey-graham-appears-say-russians-dying-best-money-weve-ever-spent-1803073
17 https://responsiblestatecraft.org/ukraine-war/
18 https://odysee.com/@TMSLL:6/Ex-Selenskyj%C2%B4s-advisor-Arestovich–Why-100K-of-Ukrainians-are-deserters-:2
19 https://www.youtube.com/watch?v=M8ZmkIhs8r0
20 Thomas Gibbons-Neff & Natalia Yermak, « Potent Weapons Reach Ukraine Faster Than the Know-How to Use Them », The New York Times, 6 juin 2022 (https://www.nytimes.com/2022/06/06/world/europe/ukraine-advanced-weapons-training.html)
21 https://edition.cnn.com/videos/tv/2023/09/25/amanpour-annalena-baerbock-ukraine-unga.cnn
22 Dinara Khalilova, « German foreign minister acknowledges some of Berlin’s weapons are outdated, inoperational », The Kyiv Independent, 26 septembre 2023 (https://kyivindependent.com/german-foreign-minister-acknowledges-issues-with-weapons-delivered-to-ukraine/)
23 Martin Fornusek, « Ukraine refused 10 Leopard 1 tanks from Germany due to poor condition », The Kyiv Independent, 19 septembre 2023 (https://kyivindependent.com/media-ukraine-refused-10-leopard-1-tanks-from-germany-due-to-poor-condition/)
24 Dinara Khalilova, « Danish Leopard 1 tanks donated to Ukraine have defects », The Kyiv Independent, 22 septembre 2022 (https://kyivindependent.com/media-danish-leopard-1-tanks-donated-to-ukraine-have-defects/)
25 https://www.reddit.com/r/UkraineRussiaReport/comments/1cb0cuo/ua_pov_no_offense_to_our_western_partners_but/
veröffentlicht 15. Mai 2024