10-Punkte-Programm für eine Erneuerung des Journalismus in Österreich

Als Medienschaffende beobachten wir mit zunehmender Sorge autoritäre Tendenzen in der Medienlandschaft, in Österreich und darüber hinaus. Unabhängiger, kritischer und ausgewogener Journalismus gerät zunehmend unter Druck. Die sogenannten Leit- und Qualitätsmedien werden ihrer Kernaufgabe nicht mehr gerecht, ihrem Lesepublikum, ihren Zuschauerinnen und Hörern objektive, umfassende und neutrale Informationen anzubieten und eine klare, nichttendenziöse Orientierung in der Informationsflut zu gewährleisten.

Stattdessen verschwimmen Meinungsmache und Berichterstattung zusehends auf eine Art und Weise, die den Prinzipien eines seriösen Journalismus widersprechen. Stimmen, die einen als gegeben angenommenen gesellschaftlichen Konsens hinterfragen, werden entweder bewusst ignoriert oder lächerlich gemacht oder diffamiert. Überdies müssen Andersdenkende damit rechnen, automatisch als dem „Rechtsextremismus“ nahestehend bezeichnet zu werden. Dies ist nicht nur unredlich, sondern auch gefährlich, weil der inflationäre Gebrauch solcher Zuschreibungen dazu führt, dass tatsächliche Radikalismen nicht mehr einwandfrei identifiziert werden können. 

Die Aufgabe von seriöser journalistischer Arbeit sollte es sein, eine Vielzahl von Standpunkten, Argumenten und Sichtweisen nüchtern zur Diskussion zu stellen. Stattdessen wird der in den Medien geführte Diskurs mit Schimpfwörtern, Kampfbegriffen und Worthülsen emotional aufgeladen und die Atmosphäre vergiftet, wodurch die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben wird. Dabei schrecken Medien auch vor Denunziation nicht zurück.

Wir erkennen eine Tendenz zu gezieltem Framing, Schwarzweißmalerei und der Dämonisierung Andersdenkender. Begründete Positionen, die unserer Einschätzung nach von einem von bestimmten Interessen gesteuerten Konsens abweichen, werden diffamiert oder als „wissenschaftsfeindlich“ hingestellt. Wir vermissen sachliche, differenzierte, besonnene und schlüssige Argumentation. Wenn Berichterstatter zu Richtern werden, ist der Auftrag von Medien verfehlt.  

In einer funktionierenden Demokratie ist die Rolle der Medien eine der „vierten Gewalt“: Ihre Aufgabe ist es, die gewählten Regierenden zu kontrollieren. Stattdessen werden kritische Bürgerinnen und Bürger zunehmend überwacht, an den Pranger gestellt oder gar kriminalisiert. Uns missfällt diese Tendenz zu einem Erziehungsjournalismus, der nicht mehr von der Idee von mündigen Bürgerinnen und Bürgern ausgeht. Medien entwickeln sich dadurch zu Instrumenten der Repression statt der Aufklärung.

Wir stellen leider fest, dass Journalistinnen und Journalisten, die sich gegen solche Tendenzen sträuben und ihr Handwerk weiterhin so ausüben, wie sie es gelernt haben, massiv unter Druck gesetzt oder gar aus Redaktionen entfernt werden. Viele von uns erleben, dass in Medien zensurähnliche Beschränkungen in verschiedenen Spielarten um sich greifen. 

Wir sehen diese Entwicklung als gefährlich für das gesellschaftliche Miteinander und die Demokratie an. Daher wollen wir diesen bedenklichen Entwicklungen, die letztlich in den Totalitarismus führen, nicht länger tatenlos zusehen. Das Mediensystem hat in der vorherrschenden Form an Glaubwürdigkeit und Vertrauen beim Publikum verloren. Qualitätsmedien, die diese Bezeichnung verdienen, sind jedoch weiterhin von zentraler Bedeutung für die Demokratie und die Bevölkerung. 

Wir plädieren daher für eine Rückbesinnung auf die Prinzipien einer Ethik unseres Berufsstands. Aus unserer Sicht braucht es folgende 10 Punkte für einen integren Journalismus: 

Zehn Punkte

Die folgenden Grundsätze für journalistische Arbeit sollten für Medien aller Art gelten: Print, TV, Hörfunk, digitale Medien sowie die sozialen Medien (Plattformen, journalistische Kanäle wie Twitter etc.)

1. Die Zielgruppe: Journalismus muss für die Bevölkerung da sein und dient nicht als Vehikel zur Untermauerung eines Narrativs von Politik, Herrschenden oder Interessensverbänden. 

2. Die vierte Gewalt: Medien müssen ihre Rolle als vierte Gewalt ernst nehmen. Ihre Aufgabe als Kontrollorgan von Politik und Wirtschaft ist umso bedeutsamer, je mehr andere Säulen der Demokratie ins Wanken geraten. Die Arbeit der Medien sollte sich unter diesen Gegebenheiten wieder an jenen Werten orientieren, die im Ehrenkodex des Österreichischen Presserats zu finden sind.  https://www.presserat.at/show_content.php?sid=3 

3. Berichterstattung: Klare Abgrenzungen von Meinung und Bericht bzw. Meldung: Die Unterschiede in der Art der Artikel müssen für Leserinnen und Leser kenntlich gemacht sein.
„Faktenchecks“ sind kein geeigneter journalistischer Zugang und als Methodik oder „journalistische Darstellungsform“ strikt abzulehnen: Der Begriff suggeriert, die „Wahrheit“ zu kennen und den Überblick über alle „Fakten“ zu haben; er wird dogmatisch eingesetzt. Der Verweis auf sich vermeintlich für „Wahrheit“ verbürgende „Faktenchecks“ behindert eine ergebnisoffene Recherche und engt den Diskurs ein. Journalismus ist aber genau das: ein ergebnisoffenes Sammeln, Einordnen, Bewerten von und Berichten über Fakten/Erkenntnisse/Erfahrungen etc. Das setzt natürlich voraus, dass sich diese Recherchen auf seriöse Quellen stützen.
Wir distanzieren uns von der Praxis der Negativschlagzeilen: Diese vermitteln eine einseitige Sicht der Welt und hinterlassen ein Gefühl der Ohnmacht.  
Wir plädieren für einen lösungsorientierten Ansatz im Sinne eines konstruktiven Journalismus. Dieser vermag Medienrezipientinnen und -rezipienten Zuversicht zu geben, dass Veränderung möglich ist. Es geht darum, nicht nur Probleme, sondern auch mögliche Lösungen aufzuzeigen. 

4. Qualität: Lieber Qualität und Niveau als schnell verfasste Artikel mit geringer Halbwertszeit. Lieber Mut zur Lücke als Lückenbüßer-Textbeiträge.

5. Sprache und Sprachkritik: Zu integrer journalistischer Arbeit gehört es, Sprache, die verwendet wird, kritisch zu hinterfragen: die eigene, aber auch die Sprache, an der sich gesellschaftliche Tendenzen ablesen lassen. Zur kritischen Spracharbeit gehört es, diese Zeichen zu lesen und sie bewusst zu machen. 

Sachlichkeit: Ideologische Kampfbegriffe, Schlagworte und Schubladisierungen sind zu vermeiden. Polemische Zuspitzungen sind legitim, Meinung und Bericht sind jedoch auseinanderzuhalten und müssen klar erkennbar sein. Manipulation der Leserinnen und Leser mittels einschlägiger Sprache und Kampfrhetorik ist nicht zulässig.
Achtung der Würde: Alles, was die menschliche Würde herabsetzt – Diffamierung, Hetze, Diskriminierung etc. ­– hat in der Berichterstattung nichts verloren. Gesellschaftliche und politische Tendenzen der Spaltung und Hetze etwa müssen journalistisch aufgegriffen und thematisiert werden. 
Keine Vorverurteilungen: Für Behauptungen müssen konkrete Beweise erbracht werden. Durch lose Assoziationen Zusammenhänge herzustellen, die mit wertenden Behauptungen verknüpft werden, ist nicht zulässig. (Bsp: X hat eine Nähe zur Partei Y, diese wiederum hat angeblich Mitglieder mit AFD/FPÖ-Nähe, also ist X jemand mit Verbindungen zum Rechtsextremismus). 

6. Politik und Ideologie: Politische Tendenz in der Berichterstattung sollte möglichst vermieden, zumindest aber selbstkritisch reflektiert und entsprechend ausgewiesen werden. Grundsätzlich gilt: politisch-ideologische Vielstimmigkeit statt Monochromie. Wir lehnen Fremdzuschreibungen wie „rechtsextrem“ oder „links-links“ ab.

7. Transparenz: Mediale Abhängigkeiten sollten transparent gemacht werden (Finanzierung, Nähe zu politischen Parteien etc.) 

8. Demokratie: Ein freier, unabhängiger Journalismus bildet die Spitze der freien Meinungsäußerung in einer Demokratie. Ihn gilt es sicherzustellen, um unsere demokratische Gesellschaftsform zu schützen und zu erhalten. 

9. Keine Tabus: Denkverbote sollte es nicht geben. Journalisten sollten berichten dürfen, was ihnen wichtig erscheint, und die Plattform dafür erhalten. Wir reden über alles und mit jedem. Den Begriff „Verschwörungstheorie“ halten wir für einen Kampfbegriff, der Journalistinnen und Journalisten daran hindert, Themen aufzugreifen. Das lehnen wir ab. 

10. Objektivität: Ein umfassender, viele Aspekte beleuchtender Journalismus verpflichtet sich dem Credo der Objektivität. Darunter verstehen wir eine ausgewogene Berichterstattung. Also: ergebnisoffene und unvoreingenommene Recherche sowie die Präsentation unterschiedlicher Sichtweisen und möglicher Interpretationen. Uns ist bewusst, dass „Objektivität“ nicht existiert, dass man sich ihr nur annähern kann.

In Krisenzeiten – seien es nun Pandemien, Wirtschafts- und Finanzkrisen oder Krieg – ist die Einhaltung der genannten Grundsätze im Sinne einer ausgewogenen, transparenten und freien Berichterstattung mehr denn je von Bedeutung.

Im Dienst für die Bevölkerung verpflichten wir uns zu größtmöglicher Objektivität und zu journalistischer Selbstreflexion. Wir bekennen uns zur Demokratie und streben eine getreue Wiedergabe der bestehenden gesellschaftlichen Vielfalt an, vor allem der Meinungsvielfalt, aber auch der Vielfalt von Lebensweisen und alternativen Zugängen (Gesundheit/Medizin, Bildung, Wirtschaft, etc.). Journalismus lenkt Aufmerksamkeit. Unser Ziel ist es, im Journalismus – auch gegen die Fokussierung auf negative Berichterstattung – unsere Gesellschaft in ihrer Breite abzubilden und Neuem gegenüber aufgeschlossen zu sein. Das heißt, nicht nur über jene Themen zu informieren, die bereits geläufig sind und das etablierte Weltbild bestätigen, sondern auch Meinungen, Strömungen, Lebensweisen etc. ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, hinter denen keine Lobbys, Organisationen oder politische Interessen stehen.

Wir, die Unterzeichnenden, stehen für diese Grundprinzipien des Journalismus und für das oben ausgeführte Programm.

Eric Angerer, Bert Ehgartner, Barbara Gräftner, Reinhard Jesionek, Harald Klauhs, Sarah Kleiner, Christa Langheiter, Thomas Oysmüller, Sigrun Saunderson, Stefan Tesch, Liza Ulitzka, Alexandra Wimmer, Susanne Wolf

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