Putin kann nicht verlieren, Selenskyj nicht gewinnen – der Krieg ist festgefahren. Warum? Und was nun?
22.11.2022
Die Medien bejubeln Putins Schwäche und Selenskyjs Offensive. Zu Recht?
Ich sehe es anders. Wir erleben eine militärische Patt-Situation. Ein länger dauernder Abnutzungskrieg zeichnet sich ab, auf einer fast 1000 Kilometer langen Frontlinie. Die Ukrainer können punktuelle Gewinne erzielen, weil sie die Aufklärungs- und Zieldaten von den westlichen Ländern zur Verfügung haben. Aber eben nur punktuell, nicht nachhaltig.
Meine Lagebeurteilung teilt General Mark Milley, der US-Generalstabschef. Auch er befindet, dass dieser Krieg militärisch nicht entschieden werden kann. Deshalb müssen wir sehen, wie wir anderweitig rauskommen. Mit Verhandlungen.
Beide Seiten sind abgenutzt. Beide haben grosse Verluste erlitten. Gemäss nachrichtendienstlichen Informationen gehe ich von rund 100.000 Gefallenen aus. 12 bis 15 Millionen Menschen sind geflüchtet. US-General Milley nennt zudem mindestens 40.000 tote Zivilisten, das halte ich für realistisch. Was zwar nach viel klingt, aber im Vergleich zu früheren Kampfhandlungen westlicher Staaten – etwa in Afghanistan, Libyen, Syrien, vor allem im Irak – relativ gering ist.
Die Waffenlieferungen konnten die tapferen Ukrainer sicherlich stabilisieren. Aber: Man muss daran erinnern, dass Russland eine der stärksten Militärmächte der Welt ist. Die stärkste Nuklearmacht überhaupt. Und eine Weltmacht mit strategischen Interessen in der umkämpften Region – gleich wie China im südchinesischen Meer oder die USA in der Karibik. Das Kräfte-Ungleichgewicht im Ukraine-Krieg ist offenkundig. Für mich erhärtet sich hier die Tatsache, dass man gegen eine Atommacht militärisch nicht durchkommt, wenn es um vitale strategische Interessen geht.
Hinzu kommt, dass die USA sich weigern, der Ukraine «Gray Drones» zu liefern. Diese Top-Drohnen will Selenskyj seit Monaten, aber das Pentagon hat dem nicht stattgegeben. Ein Zeichen des Umschwungs? Ziemlich sicher. Denn Amerika will auch keine modernen Kampfpanzer liefern. Ein richtiger Entscheid. Es gibt keine Waffen, die wie «Wunderwaffen» für die Ukraine derzeit einen entscheidenden militärischen Umschwung bewirken würden.
Jetzt, wo der Kampf überwiegend in einen Stellungskrieg übergeht, müssen andere Wege evaluiert werden. Die Chance für eine politisch-diplomatische Lösung wäre da, falls sich die Russen tatsächlich aus Cherson zurückziehen, was sich abzuzeichnen scheint. Sollte die russische Rückzugsentscheidung umgesetzt werden, sparte man viel Blutvergiessen und einen wochenlangen Strassen- und Häuserkampf. Es wäre eine kluge militärpolitische Entscheidung und eine Win-win-Situation für Russen und Ukrainer. Die Ukraine könnte das als Sieg verkaufen. Es wäre Selenskyjs Möglichkeit, gesichtswahrend in Verhandlungen überzugehen.
Problematisch ist, dass Russland kaum weitere territoriale Zugeständnisse machen kann. Die Provinzen sind, aus Moskauer Sicht, russisches Territorium, das Putin unmöglich – schon mit Blick auf den Duma-Entscheid – hergeben kann. Das wäre zudem Russlands Ende als Weltmacht. Und das weiss man in Moskau und Washington genau. Am Ende wird es auf einen Kompromiss hinauslaufen müssen: Land gegen Frieden. Die Frage wird sein, was der Ukraine an Sicherheitsgarantien zugestanden werden kann.
Kapitulieren wird und kann Russland nicht mit Blick auf die vitale strategische Relevanz der Krim und des Donbass. Durch die Teilmobilmachung ist die Armee genügend stark, um die vier Oblaste halten zu können, auch auf Dauer. Und egal, wie verlottert das Gerät oder wie schlecht die Moral der Kämpfer angeblich ist. Die reine numerische russische Überlegenheit kompensiert die Defizite. Nur ein von keinem gewünschter Kriegseintritt der Nato könnte das ausgleichen. Es ist daher illusorisch, den Donbass und die Krim mit einer ukrainischen Grossoffensive befreien zu wollen.
Im Gegenteil: Russland hat trotz vergleichsweise kleinerer Geländegewinne nach wie vor die militärische Eskalationsdominanz. Heisst: Putin kann beliebig viel Personal, Material, Waffen, Gerät, Logistik nachschieben, wie er will. Permanent. Denn er hat die logistische Basis quasi hinter sich. Zudem hat er den Joker der Nuklearwaffen. Mit dieser Option spielt er, hat sie aber nicht nötig, ausser er würde an die Wand gedrückt werden.
Weil weder Russland noch der Westen nachgeben will, herrscht Unentschieden, eine operative Pattsituation. Wird diese militärische Tour weitergeführt, steht uns ein langer Abnutzungskrieg bevor. Mit gelegentlichen Offensiven der Ukrainer sowie Abriegelungs- und Auffangeinsätzen der Russen – immer mit dem Risiko der Eskalation, wenn etwas schiefgeht.
Sinnvoller wäre, den Konflikt einzufrieren – mit einer völkerrechtlich anerkannten Demarkationslinie, schnellstmöglichen Waffenstillstands-Regelungen und anderen Mechanismen der Konfliktbewältigung. Dafür plädiere ich.
Optimistisch stimmt mich, dass – trotz politischer Kriegsrhetorik – Geheim-Diplomatie im Gang ist. Der US-Sicherheitsberater war kürzlich in Kiew. Zwischen Moskau und Washington gibt es zudem einen heissen Draht, auch die Generalstabs-Chefs sind verbunden. Das zeigt, dass man offenbar nicht bereit ist, den Konflikt zu einem dritten Weltkrieg ausarten zu lassen. Das will keiner.
Erich Vad ist Ex-General, Unternehmensberater und Publizist. Zwischen 2006 und 2013 war er Gruppenleiter im Berliner Bundeskanzleramt und Militär-politischer Berater von Kanzlerin Angela Merkel.
Protokolliert: Roman Zeller