Unsere Grundrechte geraten in Vergessenheit, nicht erst seit Corona. Jetzt werden Kritiker abgestraft, die sich gegen die deutsche Russlandpolitik stellen.

Artikel von Ortwin Rosner, ursprünglich publiziert in der Berliner Zeitung 22.5.2022

Berliner Zeitung/Markus Wächter

Demonstration gegen Krieg in der Ukraine im März in Berlin.

Warum unsere Grundrechte in Gefahr sind

Es gibt einen schleichenden Verfall dessen, was man grob mit den Begriffen „Grundrechte“, „Demokratie“ und „Meinungsfreiheit“ kennzeichnet. Wer das nicht glauben will, dem sei das anhand eines Beispiels illustriert. Er soll die Berichterstattung vor dem Angriff der Amerikaner auf den Irak im März 2003 mit der derzeitigen Atmosphäre in der Medienlandschaft vergleichen.

Damals gab es Proteste, und sie bekamen meiner Erinnerung nach nicht nur einigen Raum in den Leitmedien, es waren punktuell sogar gewisse Sympathien für den Widerstand gegen den Krieg erkennbar. Jedenfalls wurde keiner der kritischen Menschen, die damals auf die Straße gingen, als „Querdenker“, „Schwurbler“ oder „Hussein-Versteher“ abgekanzelt, und das, obwohl jedem klar war, dass es sich bei dem irakischen Staatschef Saddam Hussein um einen äußerst grausamen Diktator handelte, weit jenseits dessen, was man dem russischen Präsidenten Wladimir Putin anlasten könnte. Man redete nämlich nicht bloß in Kampfbegriffen, man bemühte sich wenigstens dem Anschein nach noch um so etwas wie Argumente pro und kontra, um einen offenen Diskurs.

Und der Gegner ist: der Andersdenkende

Heutzutage, in Zeiten, wo Menschen Schwierigkeiten bekommen, bloß weil sie sich auf die eine oder andere Weise gegen die Corona-Politik stellen oder sich nicht genügend von Putin distanziert haben, wäre eine solche Toleranz kaum mehr denkbar. Sie ist durch eine völlige Schwarz-Weiß-Malerei ersetzt worden sowie durch einen beliebigen Gebrauch von militanten Parolen, Schlagwörtern und Kraftausdrücken. Wie unsinnig auch immer sie sein mögen, Hauptsache, sie sind effektiv, zerstören das Ansehen des Gegners in der Öffentlichkeit oder führen ihn sogar der Justiz zu. Und der Gegner ist: der Andersdenkende.

Inzwischen sind die Linien klar gezogen, und die Kritik an den Kriegen der USA ist verstummt, den Journalisten Julian Assange, der amerikanische Kriegsverbrechen aufdeckte, hat ein britisches Gericht aus dem Weg geräumt, der Meinungskorridor hat sich drastisch verengt, und überhaupt muss man heute sehr aufpassen, was man sagt. Denn ein Netz des Denunziantentums hat sich über die politisch-gesellschaftliche Landschaft gelegt.

Eine Entwicklung, die sich schon länger abgezeichnet hat

Immer mehr Abweichler sehen sich auch mit Morddrohungen konfrontiert, wie beispielsweise die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Einige unter ihnen haben sich sogar zum Auswandern entschlossen, weil sie um sich und ihre Familien fürchteten, und ziehen sich dafür auch noch den gehässigen Spott der „Volksverpetzer“ zu. So weit sind wir gekommen, im Herzen Europas, mitten in Deutschland.

Das klingt sehr drastisch und ist es auch. Meine These ist aber die, dass die aktuelle diskursive Situation das Resultat einer zunehmenden Polarisierung des öffentlichen Diskurses ist, die schon seit mindestens zwei Jahrzehnten im Gange ist. Vieles, was mit Corona über uns hereinbrach, ereignete sich zwar in dieser Vehemenz überraschend, andererseits tauchte es doch nicht aus dem Nichts auf. In Wahrheit ist eine Erosion des Verständnisses für die Bedeutung von Grundrechten schon seit längerem zu beobachten. Es ging Schritt für Schritt, allzu vieles wurde hingenommen, und nach und nach über die Jahre hat man sich an Zustände gewöhnt, die für Demokratie und Rechtsstaat alles andere als selbstverständlich sind.

An viele schlimme Dinge hat man sich viel zu leicht gewöhnt

Man denke etwa an die Wiedereinführung von Foltermethoden durch die USA im Gefangenenlager Guantanamo Anfang der Nullerjahre, über das anfangs große Empörung herrschte, das mittlerweile aber aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verschwunden ist, obwohl es nach wie vor existiert. Man denke an die ebenfalls seit der Bush-Regierung mit großer Regelmäßigkeit von der amerikanischen Armee ausgeführten Drohnenmorde, die ganz klar gegen grundlegende Rechtsprinzipien der Genfer Konvention verstoßen, man denke an die außergerichtliche Beseitigung des Saudi-Arabers Osama bin Laden 2011 oder an die geradezu hinterhältige Abschlachtung des iranischen Generals Quasem Soleimani im Jahr 2020.

An derlei Dinge hat man sich viel zu leicht gewöhnt. Das – natürlich völlig irrige – Argument war, dass es ja gegen die Bösen gehe und darum zulässig sei.

Die Schlüsselstellung des Falls Julian Assange

Der öffentliche Diskurs war in keinem dieser Fälle imstande oder vielleicht auch gar nicht willig, auf eine nennenswerte Weise seine Stimme gegen die Menschenrechtsverletzungen zu erheben.

Eine besondere Bedeutung kommt jedoch dem Fall Assange zu. Hier zeichnete sich ein neuer Trend ab, und nicht grundlos warnten Stimmen davor, dass es sich dabei um einen gefährlichen Präzedenzfall handeln würde. Da ging es nicht mehr gegen einen feindlichen militärischen Kämpfer, sondern gegen einen Mann, der möglicherweise nie eine Waffe in der Hand gehalten hatte und im Grunde bloß seiner Tätigkeit als Journalist nachgegangen war.

Etwas von dem Vorgehen von Staat und Eliten gegen Teile der eigenen Bevölkerung, wie es in der Corona-Debatte deutlichere Züge annahm, findet man hier schon vorgezeichnet. All die schwerwiegenden Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit im Verfahren gegen Assange ließen den öffentlichen Diskurs letztlich kalt, und das, obwohl der UN-Sonderbeauftragte für Folter, der Schweizer Nils Melzer, und ein Heer von Aktivisten nicht müde wurden, darauf hinzuweisen.

Vom Fall Assange aus führt überdies auch der Weg zur Kriminalisierung von oppositionellen Medien, wie sie im Vorgehen gegen Ken Jebsens Internet-Portal „KenFM“ Konturen annahm und vor kurzem im EU-weiten Verbot von „Russia Today“ und „Sputnik“ einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Das heißt, wir haben es letztlich mit einem Ende der Pressefreiheit zu tun.

Viele haben den Ernst der Lage noch nicht verstanden: Die der EU zugehörigen politischen Gemeinschaften treten damit in die Fußstapfen totalitärer Systeme.

Das System der politischen Korrektheit

Es gibt jedoch noch eine andere wichtige Entwicklungslinie, die dazu beigetragen hat, das Verständnis für die Bedeutung von Grundrechten nach und nach auszuhöhlen. Erstaunlicherweise handelt es sich dabei um eine Bewegung, die sich an die Fahnen geheftet hat, gegen jede Art von Diskriminierung aufzutreten. Dies geschieht allerdings mit einer Militanz, die erst recht wieder zu massiven Diskriminierungen, Ausgrenzungen und menschenrechtlich fragwürdigen Aktionen führt. Ja, man könnte sagen, das System der politischen Korrektheit hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten einen regelrechten Ausgrenzungsapparat in die Gesellschaft hineingebaut.

Und auch hier hat man die Menschen nach und nach daran gewöhnt, starke Einschnitte in bis vor einigen Jahren noch selbstverständliche bürgerliche Freiheiten hinzunehmen. Dabei ist das Argument im Kern dasselbe wie bei Drohnenmorden und dergleichen: Es gehe schließlich gegen das Böse, gegen Rassismus und Sexismus in diesem Fall. So irrig eine solche Begründung auch ist, sie hat sich als äußerst effektiv erwiesen, und wem sich diese Logik nicht erschießt, der wird eben selbst zur Zielscheibe.

Erosion des Verständnisses für Grundrechte

Pate steht dafür das sogenannte Toleranz-Paradoxon des österreichischen Philosophen Karl Popper, dessen Gehalt man kurz zusammenfassen könnte mit: „Keine Toleranz den Intoleranten.“ Allerdings hätte er nicht im Traum daran gedacht, dass Leute einmal seine Aussage dafür missbrauchen würden, ein selbst schon faschistoides System der Gesinnungsüberwachung und des Denunziantentums zu installieren, das beinhart jeden sanktioniert, bei dem man irgendeine Art von tatsächlichem oder vermeintlichem Fehltritt ausfindig machen kann, ein System, das Bücher umschreiben lässt, wenn darin nicht genehme Wörter vorkommen, ein System, das dafür sorgt, dass Leute gekündigt werden, weil man herausfindet, dass sie irgendwann einmal vor Jahren auf der „falschen“ Kundgebung waren, oder das Leuten vorschreibt, dass sie keine Dreadlocks tragen dürfen. Hierbei handelt es sich um autoritäre Handlungsmuster, die das glatte Gegenteil des Ideals der „offenen Gesellschaft“ darstellen, für das Popper eingetreten ist.

Alles daran ist obskur. Doch wie bei den militärischen Übergriffen der USA so war desgleichen hier die schrittweise Gewöhnung daran effektiv, und für viele junge Leute ist es ganz normal, auf diese Weise zu denken. Auch auf dieser Ebene also kam es also über die Jahre zu einer tiefgreifenden Erosion des Verständnisses von Grundrechten.

Politisch korrekt morden

Kein Wunder also, dass aus diesem Eck selten eine Kritik an den Haftbedingungen Assanges oder an den Drohnenmorden kam, geschweige denn an den Corona-Maßnahmen. Im Umfeld der Woke-Bewegung macht man zwar einen riesigen Tumult, wenn einer die Auffassung vertritt, dass es ein biologisches Geschlecht gebe, nicht aber, wenn ein älterer weißhäutiger Journalist im Gefängnis verrottet. Den Prinzipien der politischen Korrektheit nach ist daran ja auch tatsächlich nichts problematisch.

Charakteristisch ist daher demgegenüber das Aufsehen, das die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd im Mai 2020 durch einen polizeilichen Übergriff erregte. Offensichtlich vermögen im System der politischen Korrektheit Menschenrechtsverletzungen nur mehr dann zu empören, wenn ihnen rassistische Motive zugrunde gelegt werden können. Alle anderen Opfer haben das Pech, dass die an ihnen begangenen Untaten politisch korrekt waren.

Faktenchecker

Nur mehr als Aperçu geht sich hier ein kurzer Blick auf eine dritte Entwicklungslinie aus, an die man sich ähnlich über die Jahre gewöhnt hat, obwohl sie nicht weniger obskur ist. Damit meine ich all die „Faktenchecker“, die inzwischen unterwegs sind und die potenziell jeden bewerten, ermahnen, einschüchtern oder gar löschen, der von einer bestimmten vorgegebenen Idee von „Wahrheit“ oder „Tatsachen“ abweicht. Sie erledigen das Geschäft der Überwachung und des Denunziantentums in den sozialen Medien. Ulrike Guérot vergleicht sie mit dem iranischen Wächterrat. Meine Assoziation ist eher die mit dem Orwell’schen Wahrheitsministerium.

Die neue Disziplinargesellschaft

Damit sind noch lange nicht alle Aspekte benannt, aber schematisch werden doch die Arme eines schwerwiegenden gesellschaftspolitischen Umbruchs erkennbar. Wie auch der italienische Philosoph Giorgio Agamben feststellt, handelt es sich um eine Transformation der bürgerlichen Demokratie in eine neue, im Kern militaristisch angelegte Gesellschaftsform. Die digitale Erfassung aller Lebensbereiche durch QR-Codes erinnert nicht nur an die Televisoren in George Orwells dystopischem Roman „1984“, sondern lässt außerdem die Erfüllung jenes Traums eines vollkommenen Überwachungs-Panoptikums Wirklichkeit werden, wie er dem 1832 verstorbenen utilitaristischen Philosophen Jeremy Bentham vorschwebte und vom französischen Machtheoretiker Michel Foucault analysiert wurde.

Den Gedanken an Grund- und Menschenrechte gibt es in dieser Konstruktion noch, aber er wird instrumentalisiert und daher weitgehend beliebig aktiviert, nämlich bloß dann, wenn er sich als strategisch nützlich erweist, etwa als Argument für die Kriegsführung („humanitäre Intervention“), oder um einen geopolitischen Gegner in Verruf zu bringen (wie im Fall des in Russland inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny).

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