(Bild www.seine-port.fr)
Quelle: Zeitgeschehen-im-Fokus.ch
von Susanne Lienhard
Am 3. Februar 2024 hat die französische Gemeinde Seine-Port südlich von Paris per Referendum beschlossen, im öffentlichen Raum die Nutzung von Smartphones zum Schutz von Kindern und Jugendlichen einzudämmen. Wie kam es dazu?
Der Bürgermeister von Seine-Port, Vincent Paul-Petit, selbst Vater von fünf Kindern und achtfacher Grossvater, stellte in seiner Gemeinde schon seit längerem mit Sorge fest, dass die Kinder mehr an ihren Smartphones hingen, als miteinander zu sprechen. Die 11 bis 14-Jährigen verbringen im Schnitt acht Stunden täglich am Bildschirm, also mehr Zeit, als sie schlafen! Lehrerinnen und Lehrer stellen die negativen Auswirkungen dieser exzessiven digitalen Aktivität täglich fest. Die Kinder können sich schlechter konzentrieren und weisen zunehmend Aufmerksamkeitsdefizite auf.
Bei der Zusammenarbeit mit dem Departement und der für Eltern- und Kinderschutz spezialisierten Ärztin, Anne-Lise Ducanda, fielen ihm die zunehmenden Fälle von Mobbing via «Soziale» Medien auf, was ihm grosse Sorgen bereitet. Er sieht sich als Bürgermeister in der Pflicht, die Warnungen der Fachleute vor dem digitalen Suchtpotenzial ernst zu nehmen, auf die «stille Epidemie» aufmerksam zu machen und zum Schutz von Kindern und Jugendlichen den Familien zu helfen, sich von den Bildschirmen zu lösen.¹ Er beruft sich auch auf den 34-jährigen Premierminister Gabriel Attal, der bezüglich der exzessiven Nutzung von Bildschirmen vor einer gesundheitlichen und erzieherischen Katastrophe für Kinder und Jugendliche warnt.
Dem Bürgermeister von Saine-Port geht es nicht darum, neue Technologien zu verteufeln – er nutzt sie selbst auch –, sondern um den Schutz der Kinder und Jugendlichen. In einem Gespräch mit der Thurgauer Zeitung sagt er: «Die Programmierer der Internetkonzerne wie Meta tüfteln ständig an neuen Wegen, um Jugendliche in ihre Applikationen zu ziehen. Ihren eigenen Kindern untersagen sie allerdings den Bildschirmzugang, weil sie wissen, dass sie dabei verdummen».²
Alternativen zum Smartphone: Bewegung, Lesen, Nichts-tun
Beim grossen Schulfest Ende letzten Schuljahres munterte der Bürgermeister die Anwesenden dazu auf, in den Ferien weniger Zeit am Handy zu verbringen, dafür mehr herumzurennen, zu lesen oder nichts zu tun – Langeweile mache bekanntlich kreativ. Er selbst werde in dieser Zeit über den Umgang mit Smartphones nachdenken.
Kommunale «Charta zur guten Nutzung von Bildschirmen»
Am 7. Oktober 2023 verkündete er dann anlässlich eines gut besuchten Vortrages der Ärztin und Buchautorin Anne-Lise Ducanda³ zum Thema «Risiken des Smartphones», seine Absicht, die Nutzung von Handys im öffentlichen Raum zum Schutz der Kinder einzuschränken. Anstatt ein Handyverbot im öffentlichen Raum zu verordnen, setzte er auf den demokratischen Prozess. Er betraute eine Arbeitsgruppe aus Eltern und Fachleuten mit der Erarbeitung einer «Charta zur guten Nutzung von Bildschirmen».⁴ Alle Bürgerinnen und Bürger waren aufgefordert, ihre Vorschläge einzureichen, wie dieser «stillen Epidemie» im öffentlichen und im privaten Raum entgegengewirkt werden kann und wie die Gemeinde die Familien dabei unterstützen könnte.
Am 25. November letzten Jahres wurde die Charta der Bevölkerung präsentiert und zur Diskussion gestellt. Am 3. Februar hat sich nun die Bevölkerung von Seine-Port in einem Referendum mehrheitlich für die Charta ausgesprochen. Viele Eltern sind froh, von politischer Seite Unterstützung zu bekommen.
Regeln für den öffentlichen Raum – Hilfestellungen für die Familien
Erklärtes Ziel der Charta ist es, die Kinder in ihrer psychosozialen Entwicklung zu schützen, das Sozialleben in der Gemeinde zu stärken und Eltern, Grosseltern, Erzieher, Lehrer und Fachkräfte im Gesundheitsbereich und in der Kleinkindererziehung bei ihrer anspruchsvollen Aufgabe zu unterstützen.
Um diese Ziele zu erreichen, gelten im öffentlichen Raum der Gemeinde nun vier Regeln: kein Smartphone vor Schulen, kein Smartphone in den Läden, kein Smartphone in Gruppen, die sich im öffentlichen Raum treffen, kein Smartphone beim Überqueren der Strasse, um die Sicherheit aller zu garantieren.
Für Familien finden sich in der Charta Hilfestellungen und Vorschläge, wie sie im privaten Raum die Bildschirmzeit begrenzen und alternative Aktivitäten finden können. Neben hilfreichen Adressen wird auch auf die «Regel der 4 Schritte» der Kinderpsychiaterin Sabine Duflo verwiesen: kein Bildschirm am Morgen, kein Bildschirm bei den Mahlzeiten, kein Bildschirm im Kinderzimmer und kein Bildschirm vor dem Schlafengehen.
Die Gemeinde ihrerseits offeriert Eltern zukünftiger Oberstufenschüler (falls sie es wünschen) ein einfaches 9-Tasten-Telefon für ihre Kinder, wenn die Eltern sich ihrerseits verpflichten, ihnen bis zum Eintritt ins Gymnasium kein Smartphone zu kaufen. Die Gemeinde will sich auch beim Ausbau von alternativen Aktivitäten für Kinder und Jugendliche engagieren: z. B. eine Bücherkiste bereitmachen, einen Sportplatz zur Verfügung stellen, eine Vorlesestunde für Vorschulkinder, Spielnachmittage oder spielerische Koch- oder Kunstworkshops organisieren. Die Einwohner der Gemeinde können auf communication@seine-port.fr weitere Aktivitäten vorschlagen.
Vorbildwirkung der Erwachsenen
Die Vorbildwirkung der Erwachsenen ist tatsächlich nicht zu unterschätzen. Wenn es gelingt, im öffentlichen Raum die Omnipräsenz des Smartphones zurückzudrängen und den analogen menschlichen Begegnungen wieder mehr Raum zu geben, wird sich das unweigerlich auf das Sozialleben in der Gemeinde und damit auch auf die Kinder und Jugendlichen positiv auswirken. Sie erleben, dass das reale soziale Netz viel tragfähiger ist als tausend sogenannte «Freunde» auf Instagram und Facebook.
Es ist zu hoffen, dass das Beispiel von Seine-Port nicht nur in Frankreich, sondern auch in der Schweiz und anderswo Nachahmung findet.
¹ William Lacaille: En Seine-et-Marne, ce maire veut interdire les smartphones dans la rue», in: La République de Seine-et-Marne du 11/10/23
² Stefan Brändle: «Ein Gallierdorf kämpft gegen Handy-Plage», Thurgauer Zeitung vom 29.02.2024.
³ Anne-Lise Ducanda: «Les tous petits face aux écrans – comment les protéger. L’épidémie silencieuse.» Editions du Rocher 2021.
⁴ www.seine-port.fr/faut-il-interdire-les-ecrans-dans-lespace-public/
veröffentlicht 6. März 2024