Dr. Erich Kästner: Gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr 1958

Rede auf einer Protestkundgebung am 20. Mai 1958, gegen Atomwaffen, soll erwähnt werden. Es handelt sich um „Rede an die Studenten“:

„Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,
ich bin nur gekommen, um Ihnen von einem gemeinsamen alten Bekannten Grüße zu überbringen. Von einem sehr alten Bekannten. Von Sokrates. Er bereist zurzeit Westdeutschland, und das darf uns nicht weiter wundern. Schließlich ist er ja, unter anderem der Begründer und klassische Meister jener Disziplin, die man heute „Meinungsforschung“ nennt. Er hat sich bei uns umgetan und umgesehen. Er hat gefragt und zugehört. Und als er sich vor ein paar Tagen, am Ende seiner Deutschlandreise, mit mir traf, kam er gerade aus Bonn.

Er hat, wie er mit erzählte, den Herren in Bonn einige Fragen gestellt. Nachdem man über den Vater der Atomtheorie über Demokrit aus Abdera und über die moderne Atomphysik gesprochen hatte, sagte Sokrates: „Meine Herren, haben Sie, als Sie mit ihrer Parlamentsmehrheit die Atombewaffnung Westdeutschlands durchsetzten, gewusst, dass die Mehrheit der Bevölkerung strikt dagegen ist, oder haben sie es nicht gewusst? Und als die Herren mit der Antwort zögerten, fuhr er fort: „Sollten Sie es nicht gewusst haben, könnte man meinen, sie seien keine besonders fähigen Politiker. Ich weigere mich“, fuhr Sokrates fort, „dass zu glauben. Sollten Sie es aber gewusst und sollten Sie dem Volkswillen wissentlich zu wiedergehandelt haben ließe sich fast vermuten, sie seien keine sonderlich überzeugten [Applaus] Demokraten. Und das zu glauben“ ,fuhr Sokrates fort, „weigere ich mich erst recht. Helft mir, meine Herren, indem ihr antwortet!“

Die Herren zögerten noch immer schließlich sagte der jüngste Minister: „Eine demokratische Regierung muss notfalls die Schneid aufbringen, unpopulär zu handeln.“ Da rief Sokrates: „oh mein Alkibiades! Mir scheint, du verwechselst Mut mit Übermut und du verwechselst die Demokratie mit der [Musik] Oligarchie! Immerhin habe ich durch Deine euer alle Antwort: Ihr habt also der öffentlichen Meinung wissentlich zu widergehandelt!“ Da sagte der älteste unter ihnen: „Nein, wir haben es nicht gewusst.“ Sokrates freute sich über so viel Aufrichtigkeit. Denn darum schien es sich ja wohl zu handeln und meinte erleichtert: „Dann fragt das Volk! Es wird Euch Antworten und Ihr werdet euren Fehler korrigieren. Nichts ist einfacher.“ Da sagte ein dritter der Herren: „Wir können das Volk leider nicht fragen. Denn das Volk zu befragen, ist verboten. Wir sind der Verfassung Treue schuldig.“ Sokrates antwortete ein wenig ärgerlich: „Sogar wenn es darum ginge dem Volk oder der Verfassung die Treue zu halten, solltet ihr wissen, was zu tun ist. Was wäre Paragraphentreue, die dem Volk die Treue bräche? Doch darum geht es ja zum Glücke gar nicht. Ihr dürft, ihr könnt, ihr müsst die Volksmeinung, die ihr nicht kennt, erfragen! Denn in eurer Verfassung ist eine solche Befragung nicht verboten.“ Mir fällt ein Stein vom Herzen.“

„Seien sie mit ihrem Steine nicht zu voreilig!“, erwiederte ein anderer Minister. Die von ihnen angedeutete und in Gottes Namen von der Mehrheit der Bevölkerung geforderte Befragung ist zwar nicht ausdrücklich verboten, aber sie ist – das entscheidet den Streitfall – nicht ausdrücklich erlaubt.“ Da freute sich Sokrates nicht länger und er sagte: „In einer Verfassung kann bei aller Weisheit derer, die sie verfassten, nicht alles berücksichtigt sein. Deshalb muss der Satz gelten: „was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt. Und schon gar und schon gar und erst recht bei eurer Frage, die um Leben und Tod geht. Wenn ihr stattdessen erklären und von euren Richtern behaupten lassen wolltet, dass alles was nicht ausdrücklich erlaubt wurde, verboten sei, dann nennt euren Staat nicht länger eine Republik!

Kommilitoninnen und Kommilitonen, ich habe mich hiermit meines Auftrags entledigt. Ich habe ihnen die Grüße unseres gemeinsamen alten Bekannten ausgerichtet. Zum Abschied sagte er: „ich liebe die Jugend und ich liebe die Zukunft. Deswegen wurde ich ja auch im Jahre 399 vor eurer Zeitrechnung als Freidenker, also als freier Denker und als Verführer der Jugend zum Tode verurteilt. Ein Glück für die Nachwelt! Und unserer Jugend sagte ich dass sie unsterblich sind.“

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