Ein Gastbeitrag von Cluse Krings
Ein Erbe der 1960-er Jahre, das eine erstaunliche Karriere absolviert hat, ver-
kleistert inzwischen den gesunden Menschenverstand und das politische Urteils-
vermögen gleichermaßen.
Die Sechzigerjahre standen bei den Intellektuellen ihrer Zeit noch ganz unter dem
Schock des eben zu Ende gegangenen Weltkriegs. Nach dem Rückfall in eine
Art motorisiertes Mittelalter unter den Nazis wollte eine neue Generation nun die
Moderne wieder zurückerobern, die das Dritte Reich unterbrochen hatte. In bes-
ter Tradition der 1920-er war man universalistisch: Individuum und Gesellschaft
sollten ein Kontinuum bilden: Friedliche, freudvolle, sexuell ausgeglichene und
achtsame Individuen sollten für die Zukunft Fackelzüge von Komissköpfen im
Gleichschritt unmöglich machen. Daneben beschäftigte man sich mit marxis-
tischer Wirtschaftstheorie, um die Dominanz der Wirtschaftseliten über Politik
und Militär zu verstehen, die den Nazi-Staat erst ermöglicht hatte.
Vieles wurde erreicht in den frühen Siebzigern, der Adenauer-Mehltau über-
wunden. Die Kinder der Aufbruchsgeneration wuchsen heran. Krieg und Faschis-
mus traten in den Hintergrund. Die sinnentleerte Verbohrtheit der K-Gruppen
Westdeutschlands tat das ihre, die Babyboomer von Politischer Ökonomie ab-
zuschrecken. Stattdessen wurde nun die psychologische Komponente überbe-
tont. Immer mehr gewannen fernöstliche Heilslehren an Boden und eine Art
Seelenhygiene. Versatzstücke von Buddhismus, Hinduismus und Zen machten
die Runde, Yoga kam in Mode. Als ein Asthmatiker und Phobiker namens Bhagwan
auftrat, war das Feld für ihn bereitet. Aber auch die Mehrheit, die dem Schar-
latan nicht hinterherlief, verinnerlichte diese Art Lehre mit der Zeit und hatte
sich in den 1980-ern von wirksamer Systemkritik verabschiedet. Es wurde chic
unter Künstlern zu verkünden, man habe gar keine „message“. Stop Making
Sense wurde ein erfolgreiches Pop-Album.
Heute wird die „Subjektzentrierung“1 aus der Achtsamkeitsideologie vor
sich her getragen wie eine Monstranz, eine Ausrichtung allein auf den Augen-
blick unter gleichzeitigem „Wertungsverzicht“2. Sich jede Art von Bewertung
abzutrainieren dient dem Einzelnen – bedingt – sich viele notwendige Kämpfe zu
ersparen, viel mehr noch dient es aber denen, die nun völlig unbehelligt von
der Bevölkerung ihre Eigeninteressen durchsetzen können: Kapital, Kaserne,
Kabinett. Alte Freunde sagen mir mit an Ehrlichkeit grenzendem Augenauf-
schlag: „Ich bin links geblieben.“ Meine Gegenfrage, was sie denn in dieser Hin-
sicht tatsächlich täten, wird mit Achtsamkeitsfloskeln beschieden. Der Soziologe
Hartmut Rosa formulierte es so: „Es geht um Wellness, und diese Attitüde wird
den aktuellen gesellschaftlichen Problemen nicht gerecht.3„
Achtsamkeit als Kriegswaffe
Nicht wenige werden das bisher Gesagte als sehr zugespitzt zurückweisen. Die
weitere „Karriere“ der Achtsamkeitsideologie wird sie umso mehr erstaunen. Denn
eine solche selbst auferlegte systemtaugliche Hirnwäsche musste ja das Inter-
esse von Kreisen wecken, deren Geschäft auch ansonsten die Hirnwäsche ist:
Dem Militär. Das willenlose Befolgen hohler Befehle, das Brüllen sinnfreier
Slogans, das absichtsvolle Induzieren von Stress auf dem Exerzierhof dienen
letztlich nur dem Ziel, den Rekruten unfähig zu machen, dem Selbsterhaltungs-
trieb zu folgen und vernünftigerweise zu desertieren, wenn er in den Tod
geschickt werden soll. Die US Army also hat die Achtsamkeit für sich entdeckt.
Und so versieht das Hippie- und Sannyassin-Gewäsch nun an zwei unterschied-
lichen Fronten auf etwa gleiche Art ihren Dienst: In der Heimat, wo möglichst
kein Widerspruch aufkommen soll vor lauter „Ganz entspannt im Hier und
Jetzt“, und im Gemetzel.
Die Fühllosigkeit appelliert an unsere Gefühle
Eine Annalena Baerbock ist eine typische Vertreterin dieser moralisierenden
Spezies, der dennoch keine Schweinerei eine Gemütsregung abringt. Ab und
an aber inszeniert sie gezielt gefühlsheischende Gesten eines Mitleids, das sie
sich in Wahrheit längst abtrainiert hat. Das hat den selbstlosen Nebeneffekt, ihre
Karriere weiter zu befördern. Doch während sie damit auch in uns Gefühle
evozieren will, kann sie dennoch keinen dazu passenden Ausdruck glaubhaft
auf ihr teigiges Gesicht zaubern. So lässt sie der israelische Völkermord, den
sie per Blockade diplomatischer Initiativen unterstützt, tatsächlich kalt. Nur
wenn ihr jemand in die Parade fährt, was potenziell Karriere-schädigend sein
könnte, indem er zum Beispiel den Völkermord auch als solchen benennt, wird
sie emotional – zickig, genauer gesagt.
Was die amerikanischen Streitkrafte an ihrem Achtsamkeitstraining be-
sonders schätzen, ist, dass ihre Soldaten nach harten Einsätzen ihre Traumata
und Emotionen besser im Griff haben, sich dem tatsächlichen Geschehen ent-
rückt fühlen, eine geringere Anfälligkeit für Stress, Depressionen, Angst, Sucht-
verhalten, Schlafstöungen, ja sogar chronische Schmerzen zeigen. „Achtsam-
keit“, so steht es in einer Verlautbarung der US Army aus dem Jahre 2015,
„ein Bewusstseinszustand, in dem das Hirn ganz auf die Gegenwart konzen-
triert zu sein scheint ohne Bewertungen, hat sich als ein viel versprechender
Eingriff zur geistigen Gesundheit für Soldaten nach dem Gefecht erwiesen, in-
dem sie diesen hilft, mit der psychologischen Bürde fertig zu werden, den der
Einsatz ihnen auferlegt.“4
Selbstgerechtes Wohlbefinden also als Selbstoptimierung bei den einen
und Fremdkonditionierung bei den anderen unter Zuhilfenahme von pseudo-moralischen und hedonistischen Komponenten, wobei es nicht nötig ist, sich
noch „auf die mit dem Konzept von Achtsamkeit ursprünglich verbundenen
Weltanschauungen einzulassen“5. Das bedeutet: Eine Frau Baerbock weiß gar
nichts mehr von den anti-kapitalistischen und anti-militaristischen Motiven, die
einmal der Achtsamkeit zu Grunde lagen.
Anti-Antisemitismus = Philosemitismus?
Ist es nun antisemitisch, Menschlichkeit einzufordern, Mitgefühl, Verhältnismäßigkei
der Mittel, Menschenrechte, ja sogar so etwas Ekelhaftes wie die Haager Landkriegs-
ordnung. Wäre dann der allenthalben geforderte Philosemitismus das Gegenteil
davon? „Nie wieder ist heute“ war der Titel der Bundestagssitzung zum 9. November in
diesem Jahr. Ja, genau: Kein neuer Völkermord! Ende der Unterstützung für Israel!
Cluse Krings ist Anthropologe (Schwerpunkt: Kulturen und Religionen in Wider Middle East), Buchautor und Publizist
Siehe auch NARRATIVE #2 (Livestream) und #60 („Droht uns ein zweites Mittelalter?“, sowie COMMENTARY #54 und #58 mit Cluse Krings
sowie seine Artikel „CoVid-Impfung – jetzt schmerzhaft“ und „War is in the air“.
- zitiert nach Wikipedia ↩︎
- zitiert nach Wikipedia ↩︎
- zitiert nach Wikipedia ↩︎
- Improving Military Resilience through Mindfulness Training, USAMRMC Public Affairs, June 1, 2015 ↩︎
- zitiert nach Wikipedia ↩︎