Großprojekt Arktis
Der Nördliche Seeweg nimmt Gestalt an – der Westen wird nervös
Quelle: Die Multipolare Welt
Stephan Ossenkopp
Die zukünftige Entwicklung Eurasiens erfordert sichere Versorgungswege, insbesondere im Bereich der Energierohstoffe. Das betrifft vor allem das energiehungrige China. Hierfür baut das Partnerland Russland die notwendige Infrastruktur auf und eröffnet gleichzeitig eine völlig neue Schifffahrtsroute: den arktischen Seeweg, der Russlands eisigen Norden mit Chinas großen Häfen verbinden wird. Die Arktis ist reich an natürlichen Ressourcen, darunter große Mengen an Erdöl und Erdgas, und verfügt über riesige Vorkommen an Mineralien wie Phosphat, Bauxit, Eisenerz, Kupfer, Nickel und Diamanten. Arktische Anrainerstaaten wie Russland, Kanada und Norwegen haben bereits mehr als 400 Öl- und Gasfelder nördlich des Polarkreises entdeckt. Russlands neue Schifffahrtsroute, auch Nördlicher Seeweg (Northern Sea Route) genannt, verläuft entlang seiner arktischen Küste von der Barentssee im Westen bis zur Beringstraße im Osten. Sie wird durch die Eisschmelze immer besser befahrbar und gilt als kürzeste Route zwischen Europa und Asien.
Im Jahr 2015 beschloss die russische Regierung die Entwicklung dieser Route bis 2030. 2018 wurde der Northern Sea Route Development Plan veröffentlicht. Im selben Jahr gab auch China ein Weißbuch zur Arktis heraus und beschloss, eine polare Seidenstraße zu entwickeln und mit Russland zusammenzuarbeiten. Mit 20 bilateralen Kooperationsdokumenten wurden die ersten Investitionen in der Region besiegelt. Ziel ist es unter anderem, die Abhängigkeit von den Seewegen durch die Straße von Malakka bei Singapur, aber auch durch den Suezkanal schrittweise zu verringern. Bereits 2003 bezeichnete der chinesische Staatspräsident Hu Jintao diese Situation als „Malakka-Dilemma“, da bis zu 80 Prozent der auf dem Seeweg transportierten Energielieferungen an China durch diese enge Passage gehen. Ihre Schließung oder auch nur Einschränkung hätte schwerwiegende Folgen für die Weltwirtschaft.
Quelle: World Economic Forum
Natürlich ist die Schifffahrt auf dem Nordpolarmeer nicht mit der auf der Südroute vergleichbar. Aber durch Klimaveränderungen gibt es auch in der Arktis immer mehr eisfreie Tage im Sommer, und zweitens baut Russland eine ganze Flotte von Eisbrechern auf, so dass inzwischen ganzjährig Schiffe die nördliche Route befahren können. Dies hatte der russische Präsident in seiner Rede auf dem dritten Pekinger Seidenstraßenforum im Herbst 2023 erklärt und die Anwesenden aufgefordert, bei der Entwicklung von Projekten in der Region aktiv zu werden. Eine Flotte von 40 neuen Frachtschiffen für die arktische Route, dazu acht atomgetriebene Eisbrecher und 16 Rettungs- und Hilfsschiffe wurden bereits vor einigen Jahren in Auftrag gegeben. Der chinesische Reedereigigant COSCO führte bereits 30 % der Fahrten entlang der nördlichen Seeroute durch, mit deutlichen Zeit- und Kosteneinsparungen im Vergleich zu den längeren traditionellen Routen. Unsicherheiten aufgrund westlicher Sanktionen veranlassten den Konzern jedoch, die Operation zurückzustellen.
Trotz dieser Hindernisse hat Russland längst mit dem Bau des größten Hafens in der Arktis begonnen. Ein 110-Milliarden-Dollar-Megaprojekt auf der Westseite der riesigen Halbinsel Taymyr, dort, wo sich das gigantische Flussdelta des Jenissej zu bilden beginnt. Es soll das gewaltigste Projekt der weltweiten Ölindustrie und der bedeutendste arktische Ölterminal werden. Als infrastrukturelle Basis entstehen neue Autobahnen, zwei Flughäfen, 15 Siedlungen, mehrere Kraftwerke sowie Wohn- und Arbeitsstrukturen für 400.000 Beschäftigte. Außerdem Pipelines, die sich über Hunderte von Kilometern erstrecken, und sogar ein Datenkabel von 12,5 Tausend Kilometern Länge, um die Internet- und Telefonverbindungen für zweieinhalb Millionen Menschen, die in der Region leben, zu verbessern. Obwohl Investoren oft durch Sanktionen des Westens behindert werden, hat kürzlich ein Unternehmen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, einem BRICS-Partnerland, Vereinbarungen unterzeichnet, um Containertransporte entlang der NSR zu fördern.
Quelle: The Economist
In den westlichen Medien wurden diese Entwicklungen bisher kaum thematisiert. In der letzten Ausgabe des Economist erschien jedoch ein Artikel über die weitreichenden Pläne Russlands und Chinas für die polare Seidenstraße. Schiffe würden nur noch 18 Tage von Shanghai nach Hamburg brauchen statt 35 durch den Suezkanal oder 45 um das Kap der Guten Hoffnung, solange wie Schiffe im Roten Meer von Huthi-Rebellen beschossen werden könnten. Russland, das die Hälfte der arktischen Küste kontrolliere, könne sich nach Asien orientieren und so seine Verluste auf dem westlichen Markt ausgleichen, schreibt das Magazin. Auch die Tageszeitung Die Welt meldete vor wenigen Tagen, die NATO sei angesichts dieser Entwicklung in der Arktis beunruhigt. Im Konflikt zwischen der NATO und Russland sei die Arktis von zentraler strategischer Bedeutung. Denn dort seien zwei Drittel des nuklearen Zweitschlag-Arsenals Moskaus stationiert, und zwar in unter dem Eis operierenden U-Booten, die Langstreckenraketen auch unter Wasser starten könnten. Die USA und andere westliche Staaten würden zehn Jahre brauchen, um den Vorsprung Russlands aufzuholen, wird darin ein Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zitiert.
Die plötzlich gestiegene Nervosität des Westens hat sicherlich mit der strategischen Weitsicht zu tun, den arktischen Seeweg auszubauen und zu sichern. Damit würde sich die multipolare Weltordnung eine unabhängige und weniger anfällige Option für die Versorgung mit Energie und Rohstoffen schaffen. Auf dem diesjährigen Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg Anfang Juni wurden bereits prominente Foren zum Thema Nördlicher Seeweg abgehalten. Unter dem Titel „Der Übergang zu einer multipolaren Weltwirtschaft, der Nördliche Seeweg und die Erweiterung des arktischen Horizonts“ wurden die Voraussetzungen für den „zügigen Ausbau des Nördlichen Seeweges (NSR) zu einem ganzjährig befahrbaren internationalen Transportkorridor“ diskutiert. Auch ein sogenannter “Arctic Plan” wurde erörtert. Darin heißt es, die Weltwirtschaft könnte von der Erschließung des wirtschaftlichen Potenzials der Arktis profitieren. Fragen wie „Wie können Investitionen gesteigert werden? Welche Technologien werden heute in der Arktis benötigt?“ und „Welche Art von internationalen Partnerschaften sollte es hier geben?“ standen im Mittelpunkt.
Quelle: Daily Sabah
Der Nördliche Seeweg ist natürlich nur eine Karte im ganzen Spiel. In diesem Blog wurde bereits mehrfach über den internationalen Nord-Süd-Transportkorridor berichtet, der die Handelsbeziehungen mit Indien und dem Iran vertiefen soll. Gleichzeitig baut Russland strategische Partnerschaften mit allen Ländern des globalen Südens auf. Alle Spitzen des diplomatischen Dienstes sind angewiesen, bis zum nächsten Gipfeltreffen der BRICS-Staatschefs im Oktober in Kasan unterschriftsreife Kooperationsdokumente vorzulegen.
Ziel ist die Schaffung einer umfassenden eurasischen Sicherheits- und Entwicklungspartnerschaft. Diese wäre Teil einer multipolaren und multilateralen Weltordnung, die an die Stelle der heutigen rein westlich orientierten Welt treten würde. Ein zentrales Element dieser eurasischen Sicherheits- und Entwicklungspartnerschaft wären, wie der russische Präsident kürzlich in einer Rede vor den Spitzen des Auswärtigen Dienstes sagte, wirtschaftliche Fragen, sozialer Wohlstand, Integration, für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit, die Überwindung von Armut und Ungleichheit und die Entwicklung von Mechanismen zur Reaktion auf globale Krisen, seien sie gesundheitlicher oder wirtschaftlicher Art. Der Nördliche Seeweg wird ein wichtiger Pfeiler dieser eurasischen Entwicklungspartnerschaft und damit einer der Versorgungswege für Wohlstand in der multipolaren Zukunft sein.