Vom Neoliberalismus zur Anarchie ?
Prof. Dr. Ulrike Guérot analysiert die Politik und handelt. Sie setzt sich seit einem knappen Jahrzehnt für die Gründung einer Europäischen Republik ein und bespricht mit Robert Cibis, wie dieses Engagement ihren Blick auf die Corona-Krise beeinflusst hat. Zusammen werden die beiden Gesprächspartner überlegen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.
Bitte spendet! Wir brauchen Eure Unterstützung, um weiter zu machen.
Ulrike Guérot fühlt sich unwohl. Der Titel dieser Narrative-Folge, „Vom Neoliberalismus zur Anarchie?“, macht sie bereits etwas nervös. Wie die Publizistin gleich zum Auftakt dieses Gesprächs berichtet, hat sie sich nicht ganz ohne zu zögern dazu entschieden, das Interview zu geben.
Sie fürchtet das Framing der Medien, die Kontaktschuld, sich und ihre Ansichten in einem alternativen (und entsprechend vom Mainstream verwünschten) Format zu präsentieren. Dabei ist es genau das, was jetzt notwendig ist, sagt sie. Es geht darum, der Polarisierung entgegenzuwirken, Brücken zu bauen, statt sich zwei separate Pro- und Contra-Biotope zu erschaffen. Daher sucht sie mittlerweile gezielt nach Orten, an denen sie anders sprechen kann als in den Leitmedien. Letztlich habe uns die Geschichte gelehrt, dass in Zeiten des Umbruchs auch immer neue Medien entstehen. Aus diesen Gründen ist sie heute hier. Außerdem suche sie die alternativen Meinungsräume, da sie das Gefühl habe, Freiheit und Europa kämen derzeit nicht mehr zusammen.
Europa: Das ist überhaupt das Thema der Politologin und Professorin für Europapolitik. Sie beschwört eine große Idee, einen Masterplan: Wo wollen wir mit der Europäischen Union hin – und wo möchten wir auf keinen Fall landen? Beispiel: in chinesischen Verhältnissen. Denn in der EU muss es um Freiheit und Vielfalt gehen. Vielfalt der Sprachen, Vielfalt der Meinungen und auch von bislang zu wenig debattierten Notwendigkeiten wie der Sortenvielfalt beim Saatgut. Sie sieht eine Chance, in der Tendenz zur Regionalisierung voranzukommen, einer Selbstverwaltung in dezentralen Strukturen.
Doch wie kann sich Europa überhaupt selbst bewahren, wenn es durch die Restriktionen der Corona-Krise Grenzen schließt und die europäische Erfahrung nur noch an Bildschirm und Display möglich macht?!
Die Autorin des Buchs „Protokolle der Krise. Wie Corona unser Leben verändert“ ist überzeugt davon, dass die Krise die EU vor noch größere Probleme stellt, als sie ohnehin schon hat. Trotz aller Vorteile, die die Digitalisierung mit sich bringt, wünscht sich die Politologin, je nach Bedarf auch ein Leben ohne Smartphone führen zu können. Jeder sollte das Recht auf analoges Leben haben. Neueste Entwicklungen wie die Visionen des Transhumanismus sprechen für sie gegen die Freiheit. Und auch gegen die Natürlichkeit. Hatte man früher die Chance auf ein Vergessen, ist heutzutage jedes Wort, jede Geste auch Jahrzehnte später noch für alle online abrufbar. Ein Grund mehr, vorsichtig zu sein, wem man was, wie und wann erzählt. Doch trotz aller Vorsicht gibt es Dinge, die einfach beim Namen genannt werden müssen. Und so bleiben in dieser Folge von Narrative auch Themen, die die aktuelle Corona-Krise betreffen, zwangsläufig nicht unausgesprochen.